Carol Iancu. Les juifs en Roumanie, 1919-1938: De l'emancipation a la marginalisation. Paris et Louvain: E. Peeters, 1996. 432 pp. ISBN 978-2-87723-230-2.
Reviewed by Armin Heinen (Universität des Saarlandes)
Published on HABSBURG (August, 1997)
Verpasste Chance: Carol Iancus Geschichte der Juden in Rumänien, 1919-1938
Wie kein zweiter scheint Carol Iancu qualifiziert, eine Geschichte der Juden in Rumaenien zwischen 1919 und 1938 vorzulegen. Seine Dissertation, die 1978 erschien, hat das Thema fuer die Jahre 1866 bis 1919 behandelt.[1] Dort schildert er den Prozess des Ausschlusses der juedischen Bevoelkerung aus Politik und Wirtschaft Rumaeniens bis zur Emanzipation 1919. Weiterhin thematisiert er den intellektuellen Antisemitismus und skizziert die Sozial- und Kulturgeschichte der juedischen Bevoelkerung. Ohne Zweifel handelt es sich bei diesem Buch um ein Standardwerk.
Nun hat sich Iancu der Geschichte der Juden Rumaeniens in den Jahren nach 1919 zugewandt und diese in seiner franzoesischen These d'Etat ausfuehrlich untersucht. Wie bei franzoesischen Habilitationsschriften ueblich, umfasst der Text weit mehr als tausend Seiten. So sah sich der Autor gezwungen, die Studie in mehreren Teilen getrennt zu veroeffentlichen. Der erste Band erschien unter dem Titel L'Emancipation des Juifs de Roumanie, 1913-1919 in Montpellier 1992, der zweite unter dem Titel Le combat international pour l'emancipation des Juifs de Roumanie in Tel Aviv 1994.[2] Der dritte und eigentliche Hauptteil liegt nun vor.
Die Einleitung des vorzustellenden Bandes ist eher kurz gehalten. Deutlich wird, dass Iancu der Zugang zu archivalischen Quellen in Rumaenien selbst versperrt blieb. Lediglich zeitgenoessische Zeitungen durfte er waehrend seiner Studienaufenthalte in Rumaenien vor 1989 einsehen. Die beabsichtigte Sozialgeschichte konnte er auf dieser Quellenbasis nicht realisieren, und so richtet sich der Blick einseitig auf die politisch-rechtliche und kulturelle Entwicklung Rumaeniens sowie der dort lebenden juedischen Bevoelkerung. Nutzen konnte Iancu dagegen die reichen Bestaende der Alliance israelite universelle, des Archivs des franzoesischen Aussenministeriums in Paris, die Materialien verschiedener Dokumentationsstellen in Jerusalem sowie des Voelkerbundsarchivs. Dass eine solche Quellenbasis nicht unproblematisch ist und die Ergebnisse der Studie stark gefaerbt hat, wird noch zu besprechen sein.
Nach der Einleitung folgt ein lexikalisch angelegter Ueberblick ueber die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf die territoriale, soziale und politische Struktur Rumaeniens. Wenig Neues erfaehrt man hier, doch das ist auch nicht das Ziel Iancus. Wie noch zu zeigen sein wird, bedarf seine Argumentation keiner eingehenden Analyse der politischen Geschichte des Landes. Das anschliessende Kapitel ueber die Juden Rumaeniens hat drei Thesen: (a) Die Geburtenrate der juedischen Bevoelkerung lag unter derjenigen aller anderen Gruppen. Der Vorwurf, die Juden wuerden die Rumaenen durch ihre hoehere Reproduktionsrate verdraengen, wie er von antisemitischen Kreisen vorgebracht wurde, greift deshalb nicht. (b) Ebensowenig haltbar ist die Aussage, die Juden waeren nur "unproduktiven" Taetigkeiten nachgegangen, denn ein Drittel arbeiteten als Bauern oder Handwerker. Immerhin--und das erklaert etwas die Vorurteile--fuenf Prozent waren in den freien Berufen taetig und vierzig Prozent in Handel und Kreditgewerbe. (c) Ganz falsch ist es auch, von "den" Juden in Rumaenien zu sprechen. Es gab keine einheitliche juedische Bevoelkerung, sondern sprachlich, religioes, politisch und kulturell ganz unterschiedlich gepraegte Gruppen, die, raeumlich voneinander getrennt, nur mit Muehe zu gemeinsamem Handeln faehig waren. Die Juden der Bukowina sprachen Deutsch oder Jiddisch, die des Banat Ungarisch, in Bukarest lebten neben Aschkenasim sephardische Juden. Dazu kam die Trennung zwischen orthodox-glaeubigen Juden und Erneuerern. Hildrun Glass[3] hat in ihrer Dissertation diese regionalen Unterschiede in aehnlicher Weise betont, den Sachverhalt meines Erachtens allerdings klarer und verstaendlicher herausgearbeitet.
In den folgenden sechs Kapiteln entwickelt Carol Iancu den Kern seiner Argumentation. Demnach wurde die Emanzipation der Juden den rumaenischen Politikern waehrend der Pariser Friedensvertragsverhandlungen von den Grossmaechten aufgezwungen, dies nicht zuletzt dank der geschickten Intervention juedischer Repraesentanten aus Rumaenien selbst. Eine erste Nagelprobe fuer die neue demokratische Ordnung stellte die Verfassung von 1923 dar. Wieder bedurfte es der energischen Abwehr von juedischer Seite, um eine Verwaesserung der Emanzipation der Juden zu verhindern. Was 1923 den liberalen Politikern noch misslang, brachte das Gesetz Marzescu 1924. Aus fadenscheinigen Gruenden wurde 100.000 Juden das rumaenische Staatsbuergerrecht aberkannt. Immerhin konnte eine weitere Verschaerfung dieses Gesetzes bis 1938 verhindert werden. 1928 gelang die Anerkennung der juedischen Religionsgemeinschaft, und trotz Eingriffen der rumaenischen Regierungen konnte das vor allem im Altreich gut ausgebaute juedische Privatschulsystem gesichert werden.
Es ist ohne Zweifel richtig, dass der rumaenische Antisemitismus eine lange Tradition hat. Carol Iancu thematisiert den Sachverhalt im fuenften Kapitel. Er beginnt mit der antijuedischen Propaganda der Liberalen 1919-1922, um sich anschliessend dem intellektuellen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts zuzuwenden. Einen gesonderten Abschnitt widmet er den Schriften von Alexandru Cuza und Nicolae Iorga. Es folgt eine kurze Darstellung der Geschichte der LANC sowie der Legion "Erzengel Michael". Hier interessieren ihn vor allem die Biographie ihres Gruenders, Corneliu Zelea-Codreanu, sowie die Attentate, die von den Legionaeren veruebt wurden. Das folgende Kapitel enthaelt eine Chronik antisemitischer Ausschreitungen, von den Studentenunruhen 1922 ueber die Verwuestungen in Oradea Mare und Cluj 1927 bis zu den antisemitischen Kundgebungen unter der Regierung Vaida Voevod 1933. Die Regierungen, so zeigt Iancu, versaeumten es, entschieden gegen die antijuedische Kampagne vorzugehen. Ja, man koenne von einer heimlichen Komplizenschaft sprechen, denn wenn Politiker eingriffen, wie Ion Mihalache es als Innenminister der Bauernpartei 1931 tat, dann aus Sorge um ihre eigene Machtbasis (S. 238).
Das siebte Kapitel untersucht, wie die Vertreter der juedischen Gemeinden auf die antisemitische Herausforderung reagierten. Ein Hauptproblem bestand darin, dass es ganz unterschiedliche Konzepte gab, welche Ziele anzustreben seien. Ging es um vollstaendige Assimilation, um Anerkennung als ethnische und religioese Minderheit--ein Konzept, das die "Uniunea Evreilor Romani" unter Wilhelm Filderman vertrat--oder um "nationale Rechte", wie es die Zionisten mit Abraham Laib Zissu wollten? Waehrend die UER eine Strategie der Kooperation mit den rumaenischen Parteien vertrat, befuerworteten die Zionisten die Gruendung einer eigenstaendigen juedischen Partei, welche 1931 und 1932 etwa 2,2 Prozent der Stimmen erhielt. Erst die zunehmende Isolierung der juedischen Bevoelkerung in den dreissiger Jahren zwang zu einer Zusammenarbeit und fuehrte zur Gruendung des "Consiliul central al Evreilor din Romania" (29. Januar 1936).
Das letzte, vergleichsweise kurz gehaltene Kapitel thematisiert die Jahre 1934-1938 als eine Zeit zunehmender Marginalisierung der juedischen Bevoelkerung. Iancu listet die antijuedische Gesetzgebung der Regierung Tatarescu auf, beschreibt die Kampagne um den "numerus valachicus," berichtet ueber den Druck der Strasse 1936/37, der unter der Losung einer "Rumaenisierung der Wirtschaft" stand, und endet mit den Massnahmen der Regierung Goga-Cuza, die ihren Hoehepunkt in einer Kampagne zur Ueberpruefung der rumaenischen Staatsbuergerschaft fanden. Bis zum September 1939 wurde 225.000 Personen juedischen Glaubens die rumaenische Staatszugehoerigkeit aberkannt.
Vielleicht liegt es daran, dass ich nach der intensiven und fruchtbringenden Auswertung der Dissertation Iancus fuer meine eigenen Studien Ende der siebziger Jahre eine falsche Erwartung hatte, wenn mich die vorliegende Arbeit weitgehend enttaeuscht hat. Fuenf Punkte seien genannt:
1.) Iancu verzichtet auf jede Forschungsdiskussion. Die Einleitung begnuegt sich mit dem Hinweis, dass Henry Roberts Rumania (1951; 4) nach wie vor die beste Analyse Grossrumaeniens darstelle. Die Fortschritte der rumaenischen Geschichtswissenschaft seit Ende der sechziger Jahre bleiben ebenso unberuecksichtigt wie neuere westliche Studien. An keiner Stelle werden die Thesen Irina Livezeanus,[5] Zigu Orneas[6] oder Francisco Veigas[7]--nur um einige Autoren zu nennen--ausfuehrlich referiert, obwohl doch die Geschichte des Antisemitismus im Mittelpunkt von Iancus Analyse steht.
2.) Insgesamt entsteht der Eindruck, dass die Studie Iancus weitgehend den Forschungsstand Ende der siebziger Jahre widerspiegelt. Zwar enthaelt die Literaturliste neuere Arbeiten. Eine Durchsicht der Fussnoten laesst indes vermuten, dass diese nur sehr selektiv in den Argumentationsgang eingegangen sind (z.B. die Thesen Volovici's zu Nicoale Iorga).
3.) Das Argumentationsmuster scheint mir allzu einfach. Fuer Iancu sind die rumaenischen Politiker mit wenigen Ausnahmen antisemitisch eingestellt. Die Forderungen der extremen Rechten unterscheiden sich demnach nicht grundsaetzlich von den Wertvorstellungen der offiziellen Politik. Nur der Druck der Westmaechte und die geschickte Abwehr der juedischen Gruppen habe die staatsrechtliche Gleichstellung der Juden erzwungen. Als sich das aussenpolitische Klima aenderte, Hitlerdeutschland immer mehr Einfluss gewann, kamen die alten antijuedischen Vorbehalte wieder zum Vorschein. Was die Regierung Goga-Cuza 1938 in die Wege leitete, war--so die These Iancus--nicht der verzweifelte Rundumschlag eines Kabinetts ohne wirkliche Basis, sondern die logische Folge einer langfristig angelegten Politik. Ohne Zweifel kann man in dieser Form argumentieren, stuetzen die von Iancu ausgewaehlten Quellen eine solche Sichtweise. Was zu kurz kommt, ist die "Normalitaet" der rumaenischen Demokratie, die laenger als andere "parlamentarische" Systeme Suedosteuropas dem Druck der sozialen und politischen Konflikte standhielt, und ist die genaue Analyse der aeusseren und inneren Kraefteverhaeltnisse, welche die Gesetzgebung bestimmten. Die Berichte der "Alliance Israelite Universelle" spiegeln vermutlich eine Skandalchronik, die durch Iancu an keiner Stelle in den jeweiligen historischen Kontext eingeordnet wird.
4.) Durchgehend fehlt die historische Analyse, dominiert die Beschreibung. Um nicht der Einseitigkeit bezichtigt zu werden, zitiert der Verfasser ausfuehrlich aus den Quellen, doch aendert dies wenig daran, dass eher eine breit dokumentierte Chronik vorliegt als eine geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung. So ist--um nur ein Beispiel zu nennen--von faschistischen Organisationen die Rede, ohne dass klar wird, was darunter zu verstehen ist, ob die LANC als faschistisch zu bezeichnen ist, und wie der faschistische Antisemitismus zu anderen Formen antijuedischer Vorbehalte sich verhaelt.
5) Iancus Darstellung konzentriert sich gaenzlich auf die Beschreibung rechtlicher Bestimmungen und des in Bukarest gefuehrten politischen Diskurses. In wenigen Laendern aber duerfte die Diskrepanz zwischen der gesetzesmaessigen Ordnung und den realen Verhaeltnissen, der Unterschied zwischen den politischen Aeusserungen der Politiker bzw. Intellektuellen und den wirklichen Gegebenheiten im Land aehnlich gross gewesen sein wie in Rumaenien. Constantin Radulescu-Motru hat hierfuer den Begriff der "Formen ohne Fundament" gepraegt. Was demnach Not tut, ist eine Geschichte der realen Verhaeltnisse, eine Mikrogeschichte juedischen Lebens in Rumaenien, die aufzeigt, ob und wie die antisemitische Propaganda in den Alltag der Menschen eingriff, wie das Miteinander gelebt, und das Gegeneinander erfahren wurde. Jedenfalls zeigen die Autobiographien juedischer Ueberlebender des Holocaust, dass das Leben in Rumaenien bis 1940 sehr wohl noch ertraeglich war und manche erinnern sich gar fuer ihre Kindheit an ein "juedisches Paradies". Das mag den realen Verhaeltnissen ebensowenig entsprechen wie Iancus Schilderung, aber es zwingt zu detaillierter Beschreibung, erfordert genaue Differenzierung, macht deutlich, dass eine rein rechts- und geistesgeschichtliche Betrachtung zukuenftig kaum weiterfuehren wird. Was Sensibilitaet gegenueber sozialwissenschaftlichen Fragestellungen im Zusammenhang mit historischem Forscherdrang und regionalgeschichtlicher Annaeherung zu leisten vermag, hat im uebrigen Irina Livezeanu in ihrer vorzueglichen Dissertation ueber Nationsbildung und studentischen Nationalismus 1918-1927 vorgefuehrt.[2]
Die Lektuere von Iancus Les juifs en Roumanie lohnt, wenn es darum geht, einen ersten Ueberblick ueber die Entwicklung des rechtlichen Status der Juden in Rumaenien zu gewinnen, sie lohnt, wenn man sich ueber die politische Organisation der Juden Rumaeniens einfuehrend informieren will. Schliesslich geben die langen Quellenauszuege einen Einblick in den politischen Diskurs der Zeit. Deutlich wird uebrigens auch, wie dringend notwendig es waere, die dreibaendigen Memoiren Wilhelm Fildermans zu veroeffentlichen, des langjaehrigen Vorsitzenden der UER, der sich mit kaum glaublichem Engagement und ausserordentlichem Erfolg fuer seine Glaubensgenossen eingesetzt hat.
Anmerkungen:
[1]. Iancu, Les Juifs en Roumanie, 1866-1919: de l'exclusion a l'emancipation ([Aix-en-Provence]: Editions de l'Universite de Provence, 1978).
[2]. Iancu, L'emancipation des juifs de Roumanie (1913-1919): de l'inegalite civique aux droits de minorite: l'originalite d'un combat a partir des guerres balkaniques et jusqu'a la Conference de paix de Paris (Montpellier: Centre de recherches et d'etudes juives et hebraiques, Universite Paul Valery, 1992); Le combat international pour l'emancipation des juifs de Roumania: documents et temoignages [Ramat Aviv]: Centre Goldstein-Goren pour l'Histoire des Juifs de Roumanie, Institut de Recherche de la Diaspora, Universite de Tel Aviv, 1994.
[3]. Hildrun Glass, Zerbrochene Nachbarschaft: Das deutsch-juedische Verhaeltnis in Rumaenien, 1918-1938 Suedosteuropaeische Arbeiten, 98. (Muenchen: R. Oldenbourg, 1996), Rezension demnaechst auf HABSBURG.
[4]. Henry L. Roberts, Rumania: Political Problems of an Agrarian State (New Haven / London: Yale University Press; Oxford University Press, 1951).
[5]. Irina Livezeanu, Cultural Politics in Greater Romania: Regionalism, Nation Building and Ethnic Struggle, 1918-1930 (Ithaca: Cornell University Press, 1995). Rezensiert auf HABSBURG: 7. Februar 1996.
[6]. Zigu Ornea, Anii treizeci: Extrema dreapta romaneasca (Bucuresti: Editura Fundatiei Culutrale Romane, 1995). Siehe dort auch Nachweis der weiteren Studien Orneas.
[7]. Francisco Veiga, La mistica del ultranacionalismo: (Historia de la Guardia de Hierro), Rumania, 1919-1941 (Bellaterra: Publicacions de la Universitat Autonoma, 1989); rumaenisch: Istoria garzii de fier,1919-1941: Mistica ultranationalismului (Bucuresti: Humanitas,1993).
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Citation:
Armin Heinen. Review of Iancu, Carol, Les juifs en Roumanie, 1919-1938: De l'emancipation a la marginalisation.
HABSBURG, H-Net Reviews.
August, 1997.
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