Walter Kempowski. Das Echolot. Abgesang '45: Ein kollektives Tagebuch. München: Albrecht Knaus Verlag, 2005. 496 S. EUR 49.90 (cloth), ISBN 978-3-8135-0249-7.
Reviewed by Charlotte Schallie (Department of Central, Eastern and Northern European Studies, University of British Columbia)
Published on H-German (January, 2006)
Verwalter der Erinnerung
1980 gab der deutsche Schriftsteller Walter Kempowski mehrere Zeitungsannoncen auf, in denen er die Leser bat, ihm persönliche Aufzeichnungen, Zeugnisse und Erinnerungsprotokolle (unveröffentlichte Tagebüchereinträge, Briefe, etc.) wie auch Photographien aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges zu schicken. Der Aufruf führte zu einem ungeahnten Schwall von Zusendungen, der bis heute anhält.[1] Tausende von persönlichen Schriftstücken, die Kempowski sichtete und selektiv auswählte, verdichtete er auf über 3000 Seiten und gab diese 1993 in einem vierbändigen Werk Das Echolot. Januar und Februar 1943 heraus. Was folgten, waren weitere vier Bände mit den Untertiteln Fuga furiosa (1999) und Barbarossa '41 (2002). Das Echolot. Abgesang '45 ist der zehnte und letzte Band dieser Erinnerungsanthologie und befasst sich mit drei entscheidenden Tagen kurz vor Kriegsende und der Kapitulation.[2] Auch im Abschlußband gibt Kempowski die Geschichte des Zweiten Weltkrieges aus der Sicht von Zeitzeugen in vielschichtiger und einprägsamer Optik wieder. Ein einziger Tag wird auf ca. 100 Seiten und in ungefähr 150 Quellen festgehalten; der Großteil davon ist bis anhin unveröffentlicht. Zu Wort kommen deutsche Kriegsverbrecher (hier werden allerdings die einschlägigen Quellen zitiert), Handlanger, Mitläufer und Opfer. Letztere brechen ihr kollektives "Schweigegebot".[3] Es darf und wird über das eigene deutsche Leid in der "zerstörten, chaotischen, verbrannten Heimat" (S. 30) geklagt. Doch viele der Einträge stammen aus den Reihen der Alliierten und der Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, u.a. sind dies Zitate von KZ-Häftlingen, Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen. Es liegt in der Natur der Dinge, daß Erinnerungen oftmals zu langatmigen Exzessen ausarten. Anders in Kempowskis Echolot. Nur wenige Einträge, die sich mit dem Zeitraum vom 20. April (Hitlers letztem Geburtstag) bis zur Kapitulation befassen, überschreiten zwei Seiten. Die meisten Zitate sind nicht einmal eine halbe Seite lang. Sie konzentrieren sich knapp und prägnant auf das Wesentliche und gewinnen gerade dadurch an Tiefenschärfe Dabei fällt auf, dass Erinnerungen keine Hierarchie kennen, und daß prominente Autoren und Künstler (darunter die Exil-Schriftsteller Thomas Mann und Elias Canetti) wie auch unbekannte Schreiber den gleichen Stellenwert einnehmen. Hitlers Lagebesprechungen im Führerbunker werden die Aufzeichnungen von einfachen Soldaten in Kriegsgefangenschaft und ausgebombten Berlinern gegenübergestellt.
Drei Vignetten vom 25. April verdeutlichen, wie diese Erinnerungscollage stellenweise eine geradezu groteske Wirkung erzielt: Kurt Weill, der 1935 in die USA auswanderte, schreibt in einem Brief an seine Frau Lotte Lenya: "'Götterdämmerung' war immer eine romantische Idee dieser kranken Gemüter, und jetzt, da sie Wirklichkeit wird, sind sie zu klein, sie zu ertragen.... Nun, während ich hier schreibe, ist die Sonne rausgekommen und ein kleiner blauer Vogel nimmt im Bach vor meinem Fenster ein Bad--und das Leben ist schön" (S. 118-119). Gleichentags im Lager Rothenstein findet sich folgende Notiz eines Inhaftierten: "Jeder kämpft, stößt und schubst um einen Fleck Boden ... Wir würden uns auch schlagen, wenn nicht Erschöpfung und lähmende Resignation die Oberhand gewonnen hätten. Wie in Waggon eingepferchtes Schlachtvieh kommen wir uns vor, aufgefordert zum Sterben" (S. 132). Franz Ballhorn beschreibt die letzten Tage im KZ Sachsenhausen: "Wir weinen nicht, wir fluchen nicht, wir trauern nicht. Unsere Gesichter sind schwer zu erkennen in der aschfahlen Haut. Zwischen den spitz hervorstehenden Knochen unserer Wangen liegen die ausgelöschten Augen wie trübe, schlammgefällte Löcher" (S. 167). Während Hitler im Führerbunker verkündet, daß "nur eine heroische Haltung ... uns diese schwerste Zeit bestehen lassen" kann (S. 167), häufen sich auf den Berliner Straßen die Leichenberge: "Erhängte Soldaten in Berlin, mit Schildern um den Hals: 'Ich war zu feige, meine Frau und meine Kinder zu verteidigen.' ... Tote Menschen, wenn die hängen, sind das keine Menschen mehr. Durch den Knick im Hals, durch den schräg abstehenden Kopf und die entspannt herunterhängenden Gliedmassen wird das, was ein Mensch bedeutet, aufgehoben" (S. 177-178).
Diese Gegenüberstellung bewirkt eine kontinuierliche Infragestellung der eigenen, durchaus nicht vorurteilsfreien Optik. Als Begleitmaterial zu den Zeugnissen, in denen es meist nur noch ums nackte überleben geht, verwendet Kempowski Photographien von jenen, die in der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten eine einflußreiche Funktion einnahmen. Gezeigt werden diese in fortgeschrittenen Stadien ihres eigenen Zerfalls: nach der Verhaftung, im Gefängnis, während des Nürnberger Prozesses, nach der Hinrichtung, als Leichnam oder als Skelett. Eine Röntgenaufnahme von Hitlers Schädel beschließt dieses makabre visuelle Gruselkabinett.
Wie ein Tiefenmesser benennt das Echolot-Erinnerungsprojekt die Prozesse der individuellen Vergangenheitsaufarbeitung und damit den eigentlichen Erinnerungsvollzug. Während die traditionelle Geschichtsschreibung das Ereignis und dessen Vernetzung in kausalen Zusammenhängen rekonstruiert, geht es in Kempowskis Erinnerungsprotokollen um die eigentliche Geschichtserfahrung. Wie wird Geschichte wahrgenommen, wie äußert sie sich in der Sprache und welche Eigendynamik entwickelt sie in der Erinnerung? Es ist ein Buch ohne Anfang und ohne Ende. Freilich ist es inhaltlich überfrachtet, doch das stört kaum. Denn man kann in diesem literarischen Archiv der Erinnerungen irgendwo beliebig zu lesen beginnen und irgendwo wieder aufhören. Erstaunen muß, daß die Inflation von Gedächtnisträgern die Einzelaussage in ihrer ganzen beispielhaften Individualität weder nivelliert noch entmenschlicht.
Für Kempowski gehen die Ursprünge seiner Faszination mit menschlichen Lebensläufen auf seine Haftzeit in der DDR zurück (er saß zwischen 1948 und 1956 wegen angeblicher Spionage im Bautzener Gefängnis): "In Bautzen wurde viel erzählt. Das klang wie ein babylonischer Chorus der eschichte." Und später wuchs die Erkenntnis: "Dieses unendliche Geraune, daß sich seit Anfang der Menschheit fortsetzt, darf nicht verloren gehen."[4]
Eine Reihe von Historikern taten sich mit dem Erinnerungskurator Kempowski schwer, weil der Autor bewußt darauf verzichtet, die Zitate historisch zu kommentieren. Selbst einige Literaturkritiker, allen voran Marcel Reich-Ranicki, übten harsche Kritik an Kempowskis Vorgehensweise. Reich-Ranicki wollte Das Echolot erst gar nicht besprechen, weil er schließlich keine "Telephonbücher" lese. Andere Kritiker bemängelten, daß sich die Grenzen zwischen Tätern und Opfern vermischten, da Kempowski zwischen dem Leiden der KZ-Insassen und der deutschen Bevölkerung im Bombenkrieg nicht zu differenzieren vermöge. Der deutschsprachige Feuilleton reagierte jedoch mehrheitlich positiv, teilweise gar euphorisch und würdigte die Echolot-Quellensammlung als "einzigartiges ... gigantomanisches Werk".[5] Es sei "ein papiernes Mahnmal von größten Ausmaßen, aber ohne Monumentalität".[6]
Obwohl es sich um eine Dokumentation handelt, ist Das Echolot keine wahllose Anhäufung von Zitaten. Denn das Auswahlverfahren und die Zusammenstellung der Texte basiert auf einem kreativen Prozess, der, vergleichbar mit einer literarischen Montage, eine implizite Wertung voraussetzt: "Der Entscheid, was nach dem Prinzip der Ergänzung oder Kontrastierung wohin zu stehen kommt", sei "ein künstlerischer", schreibt Manfred Papst in der "Neuen Zürcher Zeitung."[7] Bezeichnenderweise erhielt Kempowski für Das Echolot. Barbarossa 41 im Jahre 2002 den Dedalus-Preis für Neue Literatur.
Auch kommerziell ist die Echolot-Anthologie ein großer Erfolg. Verwundern darf dies jedoch kaum. Wer sich in der gegenwärtigen deutschen Buchlandschaft umschaut, dem muss auffallen, wie sich Unmengen von literarischen und Sachbuchtexten der gelebten Geschichte des Zweiten Weltkrieges widmen. Die Ahnenforschung, ein bis vor nicht langer Zeit in Deutschland prekäres Unterfangen, erfreut sich neuerdings großer Beliebtheit. Überall werden alte Kriegstagebücher ausgegraben und veröffentlicht. Enkelkinder setzen sich ans Sterbebett ihrer Großväter und Großmütter und befragen sie über das Alltagsleben in der Nazi-Zeit.[8] Jetzt wo die letzten Zeitzeugen auszusterben drohen, ist der Schwerpunkt in der gegenwärtigen Gedächtnislandschaft weniger auf "Vergangenheitsbewältigung" als auf die "Vergangenheits(auf)bewahrung" gelegt.
Für Kempowski stellt sich die Frage einer unhistorischen Vorgehensweise nicht, weil das Echolot-Erinnerungsprojekt für ihn nicht in einem herkömmlichen Narrativ zu bewältigen sei. Als Verwalter der Erinnerung kann er bestenfalls ein unvollendetes Werk vorlegen. Doch gerade in dieser Erkenntnis des Scheiterns ergänzen sich Geschichtsschreibung und künstlerische Wirkungsabsicht. Indem es Kempowski gelingt, die einzelnen Einträge zu Dialogen zu verbinden, kann er diese gezielt einsetzen. Daß ein historischer Kommentar fehlt, ist meines Erachtens dem Stoff angemessen. Das Buch und die Beschreibung von Szenen, die an ein "Totenhaus" (Wolfgang Schneider) erinnern, ist selbst für einen abgehärteten Historiker keine einfache Lektüre.[9] Hier überhaupt noch passende Worte und kluge Kommentare zu finden, scheint mir geradezu ein unmögliches Unterfangen. So kann ein Schlußstrich, wenn überhaupt, nur willkürlich unter dieses Kaleidoskop von schmerzvollen Erinnerungen gezogen werden. Denn je mehr man im Echolot über die letzten Kriegstage erfährt, desto offener klaffen die Leerstellen, für die es keine Erinnerungen und letztendlich auch keine Sprache gibt. Das geschichtliche Material bleibt unausschöpflich, was zur Folge hat, daß nicht der Quellensammler, sondern am Ende nur das Sterben der Zeitzeugen den Erinnerungen Einhalt gebietet.
Anmerkungen
[1]. Das Kempowski-Archiv in Nartum (nordöstlich von Bremen) ist mit über 7,000 Dokumenten und mehr als 300,000 Fotografien zu einem der bedeutendsten deutschen Privatarchive in Deutschland angewachsen.
[2]. Als Begleitbuch erschienen ist Culpa. Notizen zum Echolot (München: Knaus, 2005).
[3]. W. G. Sebald versuchte in Luftkrieg und Literatur aufzuzeigen, wie sich die deutsche Nachkriegsliteratur vor einem stark tabuisierten--in kollektiver Scham begründeten--Abbildungsverbot verbeugte und die Zerstörungen der alliierten Luftangriffe nicht verarbeitete. Daß es in der Tat Texte in Deutschland gab, die den Bombenkrieg literarisch gestalteten, vermag Volker Hage in Die Literaten und der Luftkrieg (2003) und Hamburg 1943: Literarische Zeugnisse zum Feuersturm_ (2003) nachzuweisen.
[4]. Zitiert in Marco Guetg, "Unermüdlicher Sammler von Alltäglichkeiten," Sonntagszeitung, 5. Dezember 1999, S. 67.
[5]. Volker Hage, "Der Chor der Stummen," Der Spiegel, 14. Februar 2005. S. 166. Vgl. dazu auch: Fritz J. Raddatz, "Deutschlands Höllenfahrt," Die Zeit, 11. November 1999, S. Z1, Volker Weidermann, "Als der Geschichte der Atem gefror," Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. März, S. Z6. Martin Mosebach, "Abstieg in die Mördergrube," Die Zeit, 21. März 2002, S. Z9.
[6]. Ijoma Mangold, "Jedes Leid hat ein Recht auf Erlösung," Süddeutsche Zeitung, 13. Februar 2002. S. 15.
[7]. Manfred Papst, "Zu erschöpft, um zu triumphieren," NZZ am Sonntag, 13. Februar 2005, S. 63.
[8]. Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders (Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2003); Wibke Bruhns, Meines Vaters Land. Geschichte einer deutschen Familie (München: Econ, 2004); In den Augen meines Großvaters (München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2004); Dagmar Leupold, Nach den Kriegen (München: C. H. Beck, 2004); Arno Surminski, Vaterland ohne Väter (Berlin: Ullstein, 2004); Renate Meinhof, Das Tagebuch der Maria Meinhof. April 1945 bis März 1946 in Pommern. Eine Spurensuche (Hamburg: Hoffmann und Campe, 2005).
[9]. Wolfgang Schneider, "Babylonisches Gemurmel," Neue Zürcher Zeitung. 30. April 2005, S. 66.
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Charlotte Schallie. Review of Kempowski, Walter, Das Echolot. Abgesang '45: Ein kollektives Tagebuch.
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